Messer an der Kehle


Vince wurde vergewaltigt Vergewaltigte Männer: Ein Tabu wird Thema

John A. Kantara,

Vince ist 28 Jahre alt. Als er nach London kam, wollte er seine provinzielle Heimatstadt Nottingham hinter sich lassen. London, die Metropole, versprach einen Job und abends ein wenig Vergnügen. In Soho, wo die Kneipen zwischen Piccadilly Circus und Tottenham Court Road nachts aus allen Nähten platzen und die Touristen ihre Taschen fester halten, fühlte Vince sich wohl. Die Zeiten sind jetzt vorbei. Heute meidet Vince die Gegend um Piccadilly. Hier hat sich vor zwei Jahren sein ganzes Leben verändert, als er vergewaltigt wurde.

„Ich habe immer gedacht, wer vergewaltigt wird, ist schwul“, sagt er. „Aber wenn mir noch mal jemand sagt, ich sei schwul, dann hau‘ ich ihm eine ins Gesicht.“

Vince war an jenem Abend im Cambridge-Pub mit einem Dealer verabredet, der ihm eine kleine Menge Haschisch besorgen sollte. Der Dealer war plötzlich verschwunden und mit ihm Vince‘ Geld. Vince erzählte das einem anderen Mann, Fitzroy Hemans aus Islington, für Vince bis dahin ein Fremder. „Hemans sagte: ,Ich kenne den Dealer, ich weiß, wo er jetzt ist. Er ist am Russell Square.` Und ich war so idiotisch, ihm zu glauben“, sagt Vince. Er ging mit dem 45jährigen los.

Der Dealer war nirgends zu sehen. Als sie am Eingang eines Parkhauses vorbeigingen, stieß Hemans Vince die Treppen hinunter und hielt ihm ein Messer an die Kehle. Er drohte, ihn umzubringen, wenn er sich wehren sollte.

Was Vince geschah, gab es bis vor neun Monaten nach britischem Recht noch gar nicht: die Vergewaltigung eines Mannes. Wurde eine solche Tat einmal angezeigt, verbuchte die britische Polizei das unter dem Sammelbegriff „Unzucht“. Erst seit der Novellierung des britischen Vergewaltigungsparagraphen im letzten Jahr gilt nun auch für Männer, daß erzwungener Geschlechtsverkehr eine Vergewaltigung ist, für die wie bei der Vergewaltigung von Frauen die Höchststrafe „lebenslänglich“ verhängt werden kann. Das deutsche Strafrecht kennt dagegen keine männlichen Vergewaltigungsopfer. Der Paragraph 177 des Strafgesetzbuches, der die Strafbarkeit von Vergewaltigung regelt, geht ausdrücklich von Frauen als Opfern aus. Die Vergewaltigung von Männern gilt als „sexuelle Nötigung“. Nach der Statistik wurden 1993 in Westdeutschland und Gesamtberlin 145 über achtzehnjährige Männer sexuell genötigt.

„Die Taten, die angezeigt werden, sind nur die Spitze“, sagt Commander Tom Williamson von der Londoner Metropolitan Police. „Ich glaube einfach nicht, daß es dieses Verbrechen in ganzen Landesteilen nicht geben soll. Auch wenn es darüber keine offizielle Statistik gibt: Ich bin fest davon überzeugt, daß es überall vorkommt.“

Die Vergewaltigung von Männern ist so tabubeladen, wie es die Vergewaltigung von Frauen oder der sexuelle Mißbrauch von Kindern vor zwanzig Jahren waren. Bis auf eine Diplomarbeit an der Fachhochschule München gibt es keine Literatur zu diesem Thema. Journalisten des Fernsehsenders Channel 4 führten daher selbst eine Untersuchung durch, an der sich alle Polizeidistrikte des Landes beteiligten. Über Zeitungsannoncen konnten Betroffene ein anonymes Telephon erreichen. Insgesamt 130 männliche Vergewaltigungsopfer gaben dann über einen Fragebogen Auskunft. Erstes Ergebnis: Nur ein Fünftel aller Befragten hat die Tat angezeigt. Die Hälfte der Opfer nannte sich heterosexuell. Homosexuelle waren allerdings unter den Opfern mit mehr als einem Drittel deutlich überrepräsentiert.

Vergewaltigung, ob von Männern oder Frauen, ist eine traumatische Erfahrung. Die Hälfte der befragten Männer widersetzte sich nicht. Die Angst überwältigte sie. Scham, Depressionen und Angstzustände sind die Folge.

Barry, ein Exsoldat, wurde von zwei Männern vergewaltigt. „Als ich nach Hause kam, habe ich erst einmal gebadet. Ich hab‘ mich vor mir selbst geekelt, als ob ich mitschuldig wäre.“

Susan Lee, Professorin an der Universität von Nordlondon, die zum Thema Vergewaltigung von Frauen geforscht hat, analysierte die Fragebögen: „Viele der Männer fühlten sich beschmutzt. Sie wurden depressiv, unternahmen Selbstmordversuche. Beziehungen gingen in die Brüche. Viele konnten kein Sexualleben mehr haben. Ein oder zwei Opfer kamen in die Psychiatrie. Diese Reaktionen ähneln denen bei weiblichen Opfern.“

Eine weitere Parallele zwischen männlichen und weiblichen Opfern: Zwei Drittel aller Befragten kannten ihre Peiniger. Ebenso überraschend war die sexuelle Orientierung der Täter. Die größte Tätergruppe, 41 Prozent, wurde von den Opfern als heterosexuell eingestuft.

David Canter von der Universität Liverpool, der seit langem als Psychologe mit Sexualstraftätern arbeitet, glaubt: „Wenn ein Mann einen anderen schändet, benutzt, mißbraucht, dann ist das eigentlich gar nichts Sexuelles. Es ist ein Akt der Aggression, Unterwerfung und Gewalt.“

Vince versucht immer noch, das Geschehene zu vergessen. Er hat haltlos getrunken, wochenlang nur von Antidepressiva gelebt und eine Therapie versucht. Von den 26 Opfern der Untersuchung, die den Täter auch angezeigt haben, hat allein Vince eine Verurteilung erreicht. Fitzroy Hemans sitzt für zehn Jahre hinter Gittern.

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http://www.queer-view.com/contents/genres/survivors_df.html

http://wolf.feynsinn.de/rathgeber/dyn/th_199906291300_rtl.html

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