Ein Nachmittag bei Freunden – Artikel zum Film
Snapshot with Muhammad
DIE ZEIT
42/1999
Muhammad Ali mit Hans-Jürgen Massaquoi
Ein Nachmittag unter Freunden: Zu Besuch bei Muhammad Ali auf seiner Ranch in Berrien Springs
von JOHN A. KANTARA UND JEANNINE KANTARA
Einen Mann wie Muhammad Ali lässt man nicht warten. Der Highway 94 in Richtung Osten zieht sich scheinbar endlos hin. Bis nach Berrien Springs, einem verschlafenen Nest in Michigan, drei Autostunden von Chicago entfernt. Die Sackgasse, die an typischer Vorort-Architektur vorbei zu Alis Farm führt, endet vor einem schmiedeeisernen Gitter. Dahinter ein weitläufiges Gelände, kurz geschorener Rasen, alte Eichen und vier weiß gestrichene Holzhäuser, die sich darunter ducken. Kein Bodyguard, kein Wagenpark, nur ein Station Wagon neuer Bauart.
Wir kommen zu viert: ein Kamerateam aus Deutschland und der deutschstämmige Hans-Jürgen Massaquoi, ein alter Freund des berühmten Boxers. Leicht beklommen sehen wir der Begegnung entgegen. Seit etwa 15 Jahren leidet der 57-jährige frühere Weltmeister im Schwergewicht schon am Parkinson-Syndrom, auch Schüttellähmung genannt. Sein letzter großer Auftritt bei den Olympischen Spielen in Atlanta, als er zitternd, aber erkennbar stolz die Flamme entzündete und die Nation so rührte, liegt schon drei Jahre zurück; nur eine Sekunde lang zeigten ihn die Kameras, als er im Sommer die Trauerfeier für John F. Kennedy junior besuchte.
Hans im Glück – Muhammad gewährt eine Chance
Früher konnte Ali aus dem Stegreif reimen.
Melanie, die Assistentin, öffnet das Tor. Der »größte Boxer aller Zeiten« kommt uns auf einem weißen Golf-Cart entgegen. Er steigt aus, um uns mit ausgebreiteten Armen zu begrüßen. Auf den ersten Blick gibt er in den Khakihosen und mit dem karierten Hemd das Bild eines normalen Ruheständlers ab, der sich aufs Land zurückgezogen hat. Dann zeigt sich: ein gebeugter Mann, dem das Gehen schwer fällt, weil seine Füße immer wieder stolpern oder weil er das Gleichgewicht zu verlieren und nach vorn zu fallen droht. Das Zittern der Hände ist nicht mehr zu kontrollieren. Die Krankheit hat seine Motorik zerstört. Schlimmer noch: Er kann sich kaum noch artikulieren.
Nur als Murmeln ist die Stimme zu vernehmen, die früher so laut tönte. Erst nach längerem Zuhören lassen sich einzelne Wörter herausfiltern. Kaum zu glauben, was Massaquoi uns auf der Fahrt hierher verraten hat: »Früher konnte er minutenlang aus dem Stegreif reimen.« Reime, die er eben mal so erfunden hatte, wie die berühmte Begründung, warum er nicht als Schaukämpfer vor den Truppen im Vietnamkrieg auftreten wollte. »Und fragt ihr mich auch noch so lang / Über den Krieg in Vietnam / Sing ich den Song / Ich hab keinen Streit mit dem Vietcong.« Ali, der Vater aller Rapper. Jetzt fällt ihm jedes Wort schwer. Aber dann – diese Augen. Sie lachen, immer noch. Und verraten den wachen Geist hinter allen Beeinträchtigungen, die die Krankheit diesem Mann zumutet.
Er weiß, dass die Welt ihn bedauert. Und kämpft doch mit aller Kraft, das alte Rollenbild zu erfüllen und auch als kranker Mann seine Würde zu bewahren. Filmaufnahmen gestattet er schon lange nicht mehr. Und auch Fotos sind selten geworden. Jetzt aber hat er sich in den Kopf gesetzt, seine Gäste selbst über das Anwesen zu führen. Bauarbeiter sind gerade dabei, eine neues Gebäude auf dem Gelände zu errichten. Ali zeigt hinüber: »Mein neues Büro.«
Als Erstes zieht er uns in sein Fitness-Studio. Eine komplett ausgestattete Trainingshalle. Einzelne Gewichte, eine Gewichtbank, ein Sandsack in der Ecke und in der Mitte ein richtiger Boxring, nebenan der unvermeidliche Jacuzzi. Alles unbenutzt, fast klinisch sauber. Hier fiel noch kein Tropfen Schweiß, hier hängt kein Hauch von Anstrengung in der Luft. Die Fotos ringsum erinnern an die größten Triumphe des Schwarzen aus Kentucky, an den Sieg über Joe Frazier im New Yorker Madison Square Garden, 1974, und an seinen Triumph aus dem gleichen Jahr gegen George Foreman in Kinshasa, Zaire.
Plötzlich holt er mit der Rechten aus
Muhammad Ali bleibt neben dem Sandsack stehen. Unwillkürlich sucht man in seinen Zügen Spuren von Wehmut oder Verbitterung. Seine Augen sind geschlossen. Hat er die Besucher vergessen? Steht er in Gedanken in einer ganz anderen Halle, weit hinten in der Vergangenheit? Plötzlich guckt er wieder, holt mit der Rechten aus und schlägt so kraftvoll gegen den Sandsack, dass wir gerade noch zur Seite springen können. Voller Genugtuung schaut unser Gastgeber in die Runde.
Hier in seiner Boxhalle, umgeben von Erinnerungen an seine größten Triumphe, scheint Muhammad Ali nicht mit dem Schicksal zu hadern. Locker unterhält er seine Gäste mit kleinen Anekdoten. Flirtet mit der Kamera-Assistentin, deutet auf ihren Ehemann: »Den solltest du verlassen …« Schließlich bittet er zum Lunch auf die Terrasse, wo die Hitze ein wenig erträglicher ist.
Lonnie, seine 16 Jahre jüngere Frau, ist heute unterwegs. Die Tunfisch-Sandwichs sind schon vorbereitet. Ali und Hans-Jürgen, die beiden Freunde, sitzen nebeneinander. Auch ohne viele Worte ist zu spüren, wie viel sie verbindet. Viele Erinnerungen, die sich alle um den Boxsport drehen.
Float like a Butterfly – sting like a Bee
Hans-Jürgen Massaquoi, ein gebürtiger Hamburger, hat Deutschland vor über fünfzig Jahren verlassen und in Amerika als Journalist Karriere gemacht. Genauer: als Chefredakteur von Ebony, der schwarzen Antwort auf Life. Massaquoi ist einer der ältesten Freunde von Ali, und das Boxen hat sie zusammengeführt. Noch unter den Nazis wurde Massaquoi, der einzige Afrodeutsche in Hamburg-Barmbek, Amateurboxer. »Für mich war Boxen ein Weg, mir Respekt zu verschaffen«, sagt er, und der breite Dialekt Barmbeks klingt noch nach all den Jahren durch.
Hans-Jürgen Massaquoi als 7-Jähriger im Hamburg unter den Nazis
Sein Markenzeichen: »Ich bin der Größte.«
An die erste Begegnung mit seinem Freund erinnert sich Massaquoi ganz genau. Das war Ende 1963, Muhammad Ali hieß noch Cassius Clay und hatte beschlossen, per Selbst-PR dafür zu sorgen, dass Ebony über ihn berichtete.
»Eines Tages«, erzählt der Journalist, »sagte einer meiner Kollegen in der Redaktion: Guck mal aus dem Fenster.« Vor dem Redaktionsgebäude stand ein Bus mit fett gedruckter Aufschrift: »I am the greatest.« »Dann sprang dieser junge Riese aus dem Bus. Dahinter zehn junge Mädchen, alle in Cowgirl-Kleidung, mit großen Hüten und Spielzeugrevolvern an den Hüften.« Und schon stürmte der Boxer mit seiner Entourage in die Redaktion, um jedem mitzuteilen, sein Name sei Cassius Marcellus Clay, er sei der nächste Weltmeister im Schwergewicht. »Er werde den Weltmeister Sonny Liston k. o. schlagen, teilte er uns locker mit. Eine absurde Behauptung. Sonny Liston war ein Riese mit unheimlicher Schlagkraft, und niemand von uns kannte diesen Clay, der gerade mal neunzehn Jahre alt war. Als Berufsboxer war er der totale Nobody.«
Schon vor dem Kampf wusste er, wie man den Gegner verunsichert: »Mann, wenn du mit dem Auge blinkst, habe ich schon eine Kombination gelandet.« Mit einem solchen Aufschneider konnte Massaquoi, wie viele andere, zunächst nichts anfangen. »Alle wollten sehen, wie Sonny Liston ihm die große Schnauze poliert. Und dann, im Februar 1964, geschah das, was keiner für möglich gehalten hatte: Er schlug Sonny Liston k. o.« In einem Stil, den die Welt noch nicht gesehen hatte. Ein Boxer, der die Hände unten hielt. Seine Waffe war die Schnelligkeit, die Geschmeidigkeit der Schritte. »Mein Gott, der boxt ja mit den Beinen«, wunderte sich der Choreograf Georges Balanchine. Für diese unglaubliche Leichtigkeit der Bewegung stand bald ein Begriff: der »Ali-Shuffle«.
Doch am Ende wurde auch der Ali-Shuffle langsamer. Zuletzt mutete der Champion sich einige Kämpfe zu, bei denen er viel einzustecken hatte. Ziemlich plastisch beschrieb Ali in einem ehrlichen Augenblick vor vielen Jahren, wie er sich nach schweren Treffern fühlte: »Mein Schädel vibriert wie eine Stimmgabel, Neonröhren gehen an und aus. Man sieht Fledermäuse mit Trompeten und Alligatoren mit Posaunen.«
Von den Sandwichs sind nur Krümel übrig geblieben. »Als Hans mir sagte, dass er Freunde aus Deutschland mitbringt, habe ich weiße Leute erwartet«, staunt Ali. »Und nun sitze ich lauter schwarzen Deutschen gegenüber.« Wieder schließt er die Augen, scheint die Erinnerung an Deutschland zurückzuholen. Ein Name klingt aus dem Murmeln: »Mildenberger.« Den damaligen Europameister Karl Mildenberger besiegte Ali 1965 in Frankfurt. Dann fragt er: »Gibt es noch Rassismus in Deutschland?« Wir erzählen von Mölln, von Hoyerswerda und Guben. Hans-Jürgen Massaquoi sagt nichts. Auch er hört zu. Und Muhammad Ali nickt. Dann erzählt er eine berühmte Anekdote.
»Abraham Lincoln war zu einer größeren Sauftour aufgebrochen. Nach drei Tagen fragt er, völlig unzurechnungsfähig, seinen Assistenten, der ihn die ganze Zeit über begleitet hatte: Wen soll ich noch mal befreit haben?« Der Bürgerkrieg – nichts als ein Zufall der Geschichte. Ali grinst, als wolle er sagen: Kann man mal sehen. Euch geht’s also auch nicht besser als uns.
Die großen und die kleinen Kämpfe.
Massaquoi hat seinem Freund die Fahnen seines Buchs mitgebracht. Seine Kindheitserinnerungen aus Nazideutschland. Neger, Neger, Schornsteinfeger lautet der deutsche Titel. Das riefen ihm die Kinder auf der Straße nach. Muhammad Ali ist einer der Ersten, der die amerikanische Ausgabe erhält.
Mit seinen 73 Jahren erinnert sich Hans-Jürgen Massaquoi noch gut an einen ganz besonderen Boxkampf. Max Schmeling gegen Joe Louis. 1936 war das. Der »Braune Bomber« Joe Louis ging dann allerdings gegen einen überragenden Max Schmeling in der 12. Runde k. o. Für den zehnjährigen Hans-Jürgen, der seinem Vorbild aus Amerika den Sieg gewünscht hatte, eine persönliche Niederlage. Nun war er bloß wieder ein »Neger«.
Zeit zu gehen. Nach drei Stunden ist Ali die Anstrengung anzumerken. Der Abschied: Umarmung und ein langer Händedruck mit Massaquoi. »Wir sehen uns!«
Am 16. Oktober 1999 um 19.20 Uhr sendet ZEIT TV ein Porträt von Hans-Jürgen Massaquoi unter dem Titel »Und wir waren Deutsche« auf 3sat.